Symbolisches Bild einer KI‑Everything‑App: Smartphone mit vernetzten Icons für Chat, Bezahlung, Shopping und Navigation, umspannt von einem neuronalen Netz

Die wahre Schlacht: Nicht um den besten Chatbot, sondern um die Everything‑App

Während die Welt über die besten KI-Modelle von OpenAI, Meta, Google oder X diskutiert, läuft im Hintergrund ein anderes, größeres Rennen: Wer baut zuerst eine KI‑gestützte Everything‑App, die Kommunikation, Bezahlen, Shopping, Mobilität, Arbeit und Freizeit in einer einzigen, nahtlosen Erfahrung bündelt? Der Chatbot ist dabei nur die sichtbare Spitze des Eisbergs – das Ziel ist ein persönlicher KI‑Superassistent, der Aufgaben versteht, ausführt und sich in alle wichtigen Lebensbereiche einklinkt.

WeChat als Blaupause: Was eine Super-App möglich macht

Das Referenzmodell steht seit Jahren in China: WeChat bündelt Messaging, Bezahlen, Mini‑Programme, Buchungen, E‑Commerce und mehr – alles in einer App. Hunderte Millionen Menschen wickeln damit ihren Alltag ab. Diese Integration erzeugt gewaltige Netzwerkeffekte und Datenvorteile: Eine Super‑App weiß nicht nur, woran sich jemand interessiert, sondern auch, was tatsächlich gekauft, gebucht oder bezahlt wurde. Genau diese Tiefe macht die Idee für den Westen so attraktiv – und so umkämpft.

X, OpenAI, Meta, Google: Vier Wege zur selben Vision

X (ehemals Twitter) treibt den Umbau zur „Everything App“ voran. Neben Social‑Funktionen integriert die Plattform zunehmend KI‑Features, Audio/Video‑Anrufe und arbeitet an Zahlungsfunktionen. Die strategische Stoßrichtung ist klar: Social Graph, Echtzeit‑Inhalte und In‑App‑Payments sollen sich zu einem universellen Alltags‑Hub verbinden.

OpenAI hat mit dem Start von ChatGPT Ende 2022 das schnellste App‑Wachstum der Geschichte losgetreten und seitdem die Plattform systematisch verbreitert: eigene „GPTs“ und Agenten‑Funktionen für wiederkehrende Aufgaben, multimodale Fähigkeiten (Text, Bild, Sprache, Video) sowie Werkzeuge für Entwickler und Unternehmen. Der Trend geht weg von „etwas fragen“ hin zu „etwas beauftragen“ – KI als ausführender Assistent, der mit anderen Diensten interagiert und Workflows Ende‑zu‑Ende erledigt.

Meta verfolgt die Vision einer „persönlichen Superintelligenz für jeden“ und investiert massiv in Rechenzentren, Modelle und Geräte. Neben Facebook, Instagram und WhatsApp dienen vor allem Wearables (z. B. smarte Brillen) als Brückenkopf für alltagsnahe KI‑Funktionen. Für eine Everything‑App zählt am Ende zweierlei: Reichweite in den Alltag und die Fähigkeit, KI‑Dienste schnell über ein riesiges App‑Ökosystem auszurollen – genau hier ist Meta traditionell stark.

Google verankert Gemini tief in Android und Workspace. Funktionen wie „Circle to Search“ sowie Erweiterungen für Gmail, Docs, Maps & Co. zeigen, wie sich KI‑Assistenz direkt in Betriebssystem, Apps und Produktivitätssuiten einbettet. Wer die mobile Oberfläche kontrolliert, hat einen Startvorteil: Die KI ist dann nur einen langen Druck oder Sprachbefehl entfernt – und mit Systemrechten ausgestattet, um Aufgaben quer über Apps zu erledigen.

Warum jetzt? Rechenleistung, Distribution und Identität

Drei Faktoren befeuern das Rennen: Erstens explodiert die verfügbare Rechenleistung (GPUs, Rechenzentren, optimierte Modelle). Zweitens verfügen Big‑Tech‑Plattformen über Milliardeninstallationen und Alltags‑Touchpoints, um neue KI‑Features schnell massenhaft auszurollen. Drittens werden Zahlungen, Identität und Compliance zunehmend nativ integriert – die Grundpfeiler, damit ein Assistent nicht nur antwortet, sondern Transaktionen ausführt, Termine bucht oder Bestellungen tätigt.

Chancen und Risiken für Unternehmen und Nutzer

Neue Umsatzkanäle: Wer Services, Buchungen oder Produkte anbietet, wird seine Angebote als „Tasks“ für KI‑Agenten auffindbar machen (strukturierte Kataloge, klare Aktionen, offene Schnittstellen). Sichtbarkeit in Super‑Apps könnte sich anfühlen wie SEO neu gedacht – nur für Agenten.

Prozesse automatisieren: Von Lead‑Qualifizierung über Support bis zur Rechnungsabwicklung – Agenten können repetitive Schritte übernehmen. Wichtig sind Guardrails, Rollen‑ und Rechtekonzepte sowie Protokollierung für Audit und Qualität.

Daten, Sicherheit, Regulierung: Je zentraler eine Everything‑App wird, desto kritischer sind Datenschutz, Einwilligungen, Löschkonzepte und Transparenz. In der EU greifen schrittweise Vorgaben des AI Act (z. B. Kennzeichnung, Dokumentation, Anforderungen an allgemeine KI‑Modelle). Unternehmen sollten frühzeitig Datenflüsse kartieren und Governance etablieren.

Lock‑in vermeiden: Strategisch ist Multi‑Home‑Fähigkeit sinnvoll: Inhalte, Kataloge und Workflows so modellieren, dass sie in mehreren Ökosystemen funktionieren (OpenAI‑Agenten, Gemini‑Erweiterungen, Meta‑Integrationen, X‑Funktionen). Wer heute offen baut, bleibt morgen beweglich.

Wer gewinnt das Rennen?

Der Vorteil liegt bei Akteuren mit drei Eigenschaften: enorme Rechenkapazität, riesige Distribution und erstklassige Produktintegration. OpenAI, Meta, Google und X bringen jeweils eigene Stärken mit – vom Modell‑Vorsprung über Hardware‑ und App‑Reichweite bis zum Social‑Graph. Realistisch ist kein einzelner Monopolist, sondern mehrere dominante Super‑Assistenten, die je nach Anwendungsfall, Region und Geräteklasse um die Hauptrolle konkurrieren.

Fazit: Chatbots waren der Start – der Alltag ist das Ziel

Das eigentliche Ziel der aktuellen KI‑Welle ist nicht, immer klügere Antworten zu generieren, sondern Handlungen sicher, zuverlässig und kontextbewusst auszuführen. Genau das macht die Everything‑App so mächtig – und so sensibel. Wer heute Produkte, Inhalte oder Prozesse KI‑fähig macht, verschafft sich einen Vorsprung, wenn persönliche Superassistenten zum Standard werden. Die nächsten Monate entscheiden, welche Plattformen diesen Alltag am überzeugendsten orchestrieren – und wie viel Kontrolle Nutzer und Unternehmen darüber behalten.

Von Bernhard

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